'An actor is a person with a regrettable number of psychological problems'. (Tony Dunham, aus seinem Stück 'The wonderful, wonderful sexy world of the theatre')
Wie schreibt man über etwas, nachdem man süchtig ist, in das man gleichzeitig verliebt ist und das man doch bloß bodenständig braucht wie das tägliche Brot? Das einen in Ambivalenzen taucht und einen flugs davon wieder erlöst? Das einem hilft, die Menschen besser zu verstehen und einen trotzdem lehrt, nicht in Empathie zu versinken, obwohl es einen vorher dazu genötigt hat? Das uns so 'die Hände nacheinander ausstrecken macht, aber uns doch nur das grobe Leder abreiben lässt' ...und trotzdem streckt man sie aus, die Hände, nacheinander. Nach den Kollegen. Nach dem Applaus. Nach dem Lacher. Nach dem Publikum. Nach dem Job. Denn ohne den Job ist das alles (und noch viel mehr) nicht zu haben. Und ganz schön oft fängt man wieder ganz von vorn an. Auch, wenn man es schon zwanzig Jahre lange macht (siehe Zitat oben). Jedes Vorsprechen ist wie das erste, und man muss schon wirklich leicht oder schwer masochistisch veranlagt oder sehr schräge sehnsüchtig sein, um das immer und immer wieder zu machen. Was man zwanzig Jahre lang geübt hat, immer und immer wieder zur Prüfung tragen. As you can read above: A regrettable number of psychological problems. Aber, wenn man mich spielen lässt … (und überhaupt, wenn man mich nicht lässt, mache ich einen Abend selbst. Oder ich gehe, endlich!, zum Film) … dann spiele ich, weil ich mich für die Person, die ich spiele, erst einmal interessiere. Ich lerne, sie zu verstehen. Ich merke, was an uns ähnlich ist und was verschieden. Ich lerne, wie sie zu sprechen, wie sie zu handeln, mich wie sie zu begeistern, wie sie von etwas abgestoßen, enttäuscht, betrogen worden zu sein. Darüber erhasche ich ein wenig mehr Verständnis von der Welt, zumindest bilde ich mir das ein. Ich arbeite mich damit an der Welt ab, ich arbeite mich - meist mit den Worten anderer - in die Welt hinein. Manchmal sind diese Worte, die ich spreche, um die Person zu spielen (und damit, wie gesagt, mehr Weltverständnis zu erhaschen), extrem, weil die Poesie so dicht ist, das Artifizielle der Sprache so sinnlich und sinn-voll, dass es mich wie hinaus – oder hinein(?)katapultiert in einen Rausch von dem, was es heißt oder heißen könnte, lebendig zu sein. Diese Erhöhung, eine sprachliche, eine poetische Überhöhung, kenne ich nur aus dem Theater. Vielleicht gibt es sie noch in einer Kirche, oder in einem vergleichbaren heiligen Raum, wo einen die Wucht beispielsweise eines Psalms umhaut und mit Erkenntnis erfüllt, oder mit Ehrfurcht oder mit Angst oder auch Entsetzen, oder eben mit Seligkeit, einen Augenblick lang. So kann es mit der poetisch verdichteten Sprache wie der von Shakespeare (ebenso Kleist, ebenso Schiller...) sein, die dich trifft wie ein Blitz und dich hilflos taumelnd macht. Und mit etwas Glück und guten Kollegen verstehst du im Lichte dieses Blitzes die Welt, die Menschen, die Situationen zwischen Menschen, die Gefühle in den großen Städten und in den kleinen Orten besser und hast das beglückende Gefühl, Teil davon zu sein. Aber nur, wenn Du es vorher geschafft hast, Deine 'Figur' zu finden! Die Person, die Du spielst. Oder sie Dich, oder Ihr Euch. Sonst nützt der Blitz nichts, und es gibt kein bisschen besseres Weltverständnis.
Es ist schön und eine große Herausforderung, diese „Figur“, also die Person, die ich spiele, zu finden. Es kann sehr leicht sein, und ungeheuer schwer. Manchmal denke ich, es gibt gar keine 'Figur', ich muss nur die Worte an mich heranziehen, dann stimmt alles. Aber das ist selten. Auf jeden Fall finden alle Arten von Annäherungen statt – man kommt der Sprache näher, dem Autoren, den Kollegen, den Regisseuren, auf dem Weg, „die Figur zu finden“, man findet eine Körperlichkeit, manchmal eine andere Stimme, Bewegungen, Schuhe, Frisuren, Sachen, die sie bei sich trägt. Es wird die Wirklichkeit der Person, die ich spiele, umkreist mit vielen verschiedenen Mitteln.
Da ich immer riesige Problem habe mit dem Dosieren von diesen Mitteln – wie etwas sagen, wann ist es natürlich und wie lange, wo wird es banal, wo poetisch, wann trifft das Banale auf das Poetische und wird dann vielleicht gerade gut oder gerade verständlich, wie laut oder leise muss, darf, kann ich sein, und wie emotional; wieviel darf ich zeigen von ihren Gefühlen oder soll ich sie nicht zeigen, nur deckeln, und ja nicht zu sehr, denn weniger ist mehr, wie sehr trägt sie ihre Sehnsüchte oder Gebrechen zur Schau, oder ihre extreme oder extrem unauffällige Garderobe - diese Art der Dosierung meine ich, die mich immer wieder schlingern macht und hilflos und mir das Gefühl gibt, nichts je verstanden zu haben – dieses Dosieren möchte ich üben, immer wieder; und jedes Stück, jede Rolle, jeder Regisseur und jede Regisseurin, jeder Kollege und jede Kollegin ist eine Herausforderung, eine Hilfe, eine Begleitung, eine Möglichkeit, dieses Dosieren von Mitteln zu üben. Wie schnell, wie langsam ist meine Person, meine 'Figur'? Ich bin immer entweder zu schnell oder zu langsam, und mit Sicherheit werde ich, wenn ich zu langsam war und der Regisseur sagt, so langsam ist die nicht, danach zu schnell sein, und selbst wenn ich den Job mit 85 noch mache, was ich inständigst hoffe, wird es so sein. Ich lerne also zu dosieren, seit Jahren und Jahren, eigentlich genau wie Sisyphos, nur musste der sich nicht immer wieder einen neuen Stein zum Rollen (sic!) suchen, nicht zu schnell, nicht zu langsam, nein, eben nur und genau so schnell oder so langsam wie die Person, die ich spielen darf, meine 'Figur', in Bezug zu der Person, mit der sie spielt. Immer anders, immer neu, endlos. Wie poetisch, wie profan ist sie. Eben so und nur und genau so, wie sie ist und wie sie geschrieben ist. Wie laut, wie leise. Wie musikalisch, wie unmusikalisch. Wie überschwänglich, wie zurückhaltend. Wie hingebungsvoll, wie skeptisch. Ein ewiges Austarieren. Eine Übung in emotionalen Zuständen, die nur über Begreifen funktioniert. Begreifen, wer es ist, den ich spiele. Nach dieser Person greifen, in sie eingreifen, sie mir greifen, sie in mich eingreifen lassen. Teil von ihr werden, und sie wird Teil von mir, aber zu wie vielen Teilen genau, das ist die Frage, die es auszuwiegen gilt. Das kann man ohne Probleme ein Leben lang machen. Es kann auch wunderbar sein, anderen Menschen dabei zuzusehen, wie sie es machen oder gar sie dazu zu bringen oder ihnen dabei zu helfen.
Da mich dieses Austarieren ungeheuer viel Kraft und Geduld kostet, ist es für mich immer eine große Erleichterung, wenn diese meine Person auch singt, denn dann, so scheint es mir – ich kann mich furchtbar irren – geht das Austarieren ungleich viel schneller. Wenn die Person, die ich spiele, singt – im Englischen sagt man – she breaks into song, und diese Formulierung ist natürlich sensationell, sie bricht aus, quasi, sie bricht ins Lied hinein – dann ist das wie eine Abkürzung ins Innere dieser Person. Oder der 'Figur', 'meiner Figur', wenn man das so nennen will (ich bin da, wie man merkt, etwas hin – und hergerissen, das kriege ich auch nicht mehr weg). Jedenfalls muss ich dann nicht mehr soviel austarieren, dann stellt sich der 'richtige' (also richtig dosierte) emotionale Zustand quasi ein – über das Lied bricht er über die 'Figur' und über die Zuschauer (und auch über mich) herein, und wir verstehen sie mit einem Mal besser, quasi schneller. So kommt es mir vor. Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass ich mich beim Singen sicherer fühle – und damit das Gefühl habe, schneller an die 'Figur' heranzukommen, wenn ich wie sie oder für sie oder an ihrer Stelle singe. Dann ist alles mit einem Mal mit Sinnhaftigkeit voll, und ich weiß, wie sie klingt oder klingen könnte, oder ich kann sagen, ich klinge jetzt so, aber ich klinge für sie. Und dann habe ich wie eine Abkürzung genommen. Es ist aber kein Trick, hoffe ich; es ist ein anderer Weg. Ein Weg, die 'Figur' oder die Person über Klang zu erfassen und zu erzählen. Vielleicht ist es auch ein Trick. Ich weiß es nicht. Aber dann ist es ein Trick, den ich mag, und der für mich funktioniert. Vielleicht ist es das, wonach ist süchtig bin: diese augenblickhafte Illusion von Verstehen. Jetzt, in diesem Moment, verstehe ich diese Person, meine 'Figur'. Ich verstehe genau, warum sie sagt, was sie sagt, warum sie schreit, wie sie schreit, warum sie singt, wie sie singt, warum sie schweigt, wie sie schweigt.
Am Theater zeichnet sich alles glückhaft daran aus, dass es momenthaft ist und danach wieder verschwindet. Es bleibt ein Hauch, eine Erinnerung, es bleibt eine Art Festhalten an einer Vergänglichkeit, die man paradoxerweise wiederholt – ja, die Vergänglichkeit des Verstehens erhöht sich mit der Anzahl der gespielten Vorstellungen und was am Ende davon überbleibt, sind Verhältnisse – Verhältnisse und Verhältnismäßigkeiten, die sich auf geheimnisvolle Weise gewandelt haben, dadurch, dass sich etwas in ihnen angesammelt hat. Was es genau ist, dass sich in den Verhältnissen und Verhältnismäßigkeiten angesammelt hat, das weiß ich nicht, aber ich hoffe, es eines Tages zu wissen. Vielleicht eine Art Weisheit. Oder Geduld. Oder ein Abglanz vom Himmel. So etwas. Mit Verhältnis meine ich ganz konkrete Sachen: mein Verhältnis zu den Kollegen und Kolleginnen. Mein Verhältnis zum Regisseur oder zur Regisseurin. Mein Verhältnis zum Autoren (dito). Mein Verhältnis zu einer bestimmten Arbeitsweise. Und diese Verhältnisse, die sich durch die Arbeit an einem Stück und somit an einer 'Figur' ändern, also verwandeln, verwandeln dann auch mein Verhältnis zur Welt und zu allem, was darinnen ist, quasi. Und das ändert die Verhältnismäßigkeiten. So ungefähr. Rufen Sie mich wegen des letzten Absatzes gern noch einmal an.
Ich habe zum Beispiel hier in Konstanz eine abgefahrene Erfahrung gemacht mit einem Regisseur, und das beschreibt vielleicht ganz gut, was ich die ganze Zeit sagen will: ich habe mit diesem Regisseur bisher an zwei Stücken gearbeitet. Er hat mir quasi gezeigt, wo der Kern der 'Figur' lag, jeweils. So kam es mir vor. Er hat mich darauf aufmerksam gemacht, wie schnell und wie langsam sie ist, wie gläubig und ungläubig, wie gewissenhaft oder verräterisch; wo auf der Skala zwischen Opfer und Täter sie sich ungefähr befinden könnte, was sie über sich und andere wahrscheinlich denkt und eben wo auf der Skala zwischen vielen gegensätzlichen Möglichkeiten von Sein sie sich tendenziell befindet. Austarieren. Und er hat das - so meine ich – so genau gemacht, dass ich nach einer gewissen Anzahl von Proben gemerkt habe, nach so und so vielen Entscheidungen, die wir quasi miteinander gefällt haben: jetzt ist die Person, meine 'Figur', unabhängig von mir geworden – das Stück hat sich wie von mir abgelöst, so wie auf den Bildern in den Biologiebüchern, wenn sich eine Zelle teilt und es entstehen zwei voneinander unabhängige Wesen. Obwohl ich den Job seit 20 Jahren mache - time flies when you're having fun - habe ich eine derartige Erfahrung bisher zumindest in diesem Maße nicht gemacht. Und das ist eine großartige Sache, so etwas zu merken. Jetzt ist sie da, meine 'Figur'. Es läuft von selbst, quasi. Das ist eine Gnade und man kann es nicht herstellen. Es kann sich nur – auch diese Formulierung habe ich von diesem von mir hochgeschätzten Regisseur – es kann sich nur einstellen. Und so habe ich ein wenig mehr von der Welt begriffen. Und darum bin ich süchtig nach diesem Job, und es ist ein Luxus im allerbesten Sinne, ihn machen zu dürfen. Weil man damit über sich, also über sich selbst als Hilfsmittel, als Instrument, den Menschen etwas Interessantes über die Menschen erzählen kann. Und wenn es gut läuft, können wir zusammen über uns lachen oder weinen oder sinnieren oder übermütig werden oder demütig, was ja beides, richtig dosiert, die Leute wirklich weiterbringen kann. Und das kommt mir sinnvoll vor. Verstehen Sie, was ich meine?